Rückblick
„Naturgefahren – hat die Schweiz alles im Griff?“ lautete die Leitfrage der letzten Fachveranstaltung des Netzwerks Risikomanagement in diesem Jahr, die am 19. November 2019 bei der AXA XL Risk Consulting in Zürich zu Gast war. Experten des Bundes sowie aus der Versicherungswirtschaft und der Geowissenschaft standen einem gespannten Fachpublikum Red und Antwort.
Die Schadenfälle aus Naturereignissen haben laut Roland Murr, Risk Engineer bei AXA XL Risk Consulting, in den letzten Jahren weltweit weiter zugenommen. Wichtigste Faktoren sind nicht nur der Klimawandel und extreme Wetterlagen, sondern auch die wachsende Konzentration von Menschenleben und Sachwerten in Risikogebieten. Hinzu kommt die fortschreitende Globalisierung der Wertschöpfungsprozesse: Reisst ein Glied in der Lieferkette, beispielsweise als Folge eines Hochwassers, kann dies ganze Branchen schädigen. Diese Dynamik verlangt vom Versicherer viel Sorgfalt bei der Risikobewertung: Unerlässlich bleibt die Einschätzung der Situation vor Ort, zumal dabei mit dem Kunden auch Massnahmen zur Stärkung der Resilienz entwickelt werden können. Ebenso müssen Kumul-Effekte, d.h. gemeinsam eintretende Einzelrisiken im Auge behalten werden. Dabei kommt geoinformatischen Expertensystemen für die Risikomodellierung wachsende Bedeutung zu.
Dass Naturgefahren für Mensch und Umwelt als Risiken zu begreifen sind, d.h. als Funktion von Wahrscheinlichkeit und Schadenpotenzial, begann sich bei Bund und Kantonen vor gut einem Jahrzehnt durchzusetzen, sagen Philippe Arnold und Raphael Rues vom Bundesamt für Strassen (ASTRA). Der Paradigmenwechsel von der reinen Gefahrenabwehr hin zum risikobasierten Ansatz ist grundlegend: Er ermöglicht, die knappen öffentlichen Mittel optimal für die Reduktion der nicht akzeptablen Risiken einzusetzen und ein regional ausgeglichenes Sicherheitsniveau zu erreichen.
Dies gilt zum einen für das Risikomanagement (RM) von Infrastrukturen, etwa unserem Nationalstrassennetz. Das ASTRA arbeitet hierfür mit RoadRisk, einem eigens entwickelten Instrument für streckenbezogene Risikoanalysen von Naturgefahren auf den Nationalstrassen. Namentlich bildet RoadRisk die Risiken in einer Übersichtskarte ab, identifiziert Strassenabschnitte und Gefahrenprozesse mit prioritärem Handlungsbedarf und ermöglicht Kostenwirksamkeits-Analysen von geplanten und durchgeführten Massnahmen.
Erst recht gilt der risikobasierte Ansatz als methodischer Eckpfeiler im RM jener Gefahrenbereiche, die der Bund im Verbund mit den Kantonen und Gemeinden sowie den Versicherern und den potentiell Betroffenen steuert, beispielsweise im Hochwasserschutz. Hier geht es essentiell darum, die verschiedenen Massnahmen mit Blick auf den Schutzbedarf, aber auch auf die systemischen Wechselwirkungen der Eingriffe und der finanziellen Restriktionen bestmöglich zu kombinieren. Integrales Risikomanagement heisst das passende Schlüsselwort, das der Bund ins Zentrum seiner Strategie 2018 zum Umgang mit Naturgefahren stellt. Kann das Schutzniveau damit gehalten oder gar erhöht werden? Dies bleibt eine grosse Herausforderung, sagt Adrian Schertenleib vom Bundesamt für Umwelt (BAFU). Denn der Ausbau der Schutzmassnahmen steht im Wettlauf mit dem wachsenden Wert der Schutzgüter und – im Zuge des Klimawandels – mit der erwarteten Zunahme kritischer Naturereignisse.
Im Zuge von Globalisierung und Klimawandel verstärkt sich das Invasions- und Verbreitungsrisiko von Neobiota, erläutert Marc Grünig, Doktorand bei Agroscope/ETH zum Thema invasive Schadinsekten in Europa. Bekannte Beispiele unbeabsichtigter Einschleppung invasiver Arten in jüngerer Zeit sind etwa die Kirschessigfliege (Drosophila suzukii) oder der „Stinkkäfer“ (Halyomorpha halys), die in der Schweiz ein neues Habitat gefunden haben. Da sie keine natürlichen Feinde haben und als Generalisten eher anspruchslos sind, können sie sich schnell ausbreiten. Steigende Temperaturen beschleunigen dabei das Populationswachstum und eröffnen neue Verbreitungsgebiete – das Risiko wirtschaftlicher und ökologischer Schäden steigt. Die Identifikation dieser Risiken für Europa ist das zentrale Ziel von Grünigs Forschungsprojekt. Im Kern untersucht er die potentielle Ausbreitung und die dadurch möglichen Interaktionen von invasiven Schadinsekten und ihren Wirtspflanzen für die kommenden Jahr-zehnte. Ein wichtiges Stück angewandter Forschung für den Umgang mit invasiven Arten – auch in der Schweiz!
Viele Fragen wurden in den Referaten angestossen und boten reichlich Stoff für eine lebhafte Diskussion im kurzen Podium und dem anschliessenden Apéro.
Die Folien finden Sie nachfolgend im PDF zum Herunterladen: